Langer Aufruf: Heraus zum anarchistischen 1. Mai! Freiheit statt Kapitalismus, Patriarchat und Egoismus!

Seit über 130 Jahren gehen Lohnabhängige am 1. Mai weltweit auf die Straße, um ihrer Wut über die herrschenden Verhältnisse Luft zu verschaffen und für eine andere, bessere Gesellschaft zu protestieren. In der Tradition der Chicagoer Arbeiter*innen, deren Streik im Mai 1886 brutal niedergeschlagen wurde, wollen wir als Anarchist*innen auch in diesem Jahr am 1. Mai in Dortmund demonstrieren. Wir wollen gemeinsam mit vielen anderen Menschen Alternativen aufzeigen zu diesem System, das uns unterdrückt und uns das Leben schwer macht.

In folgenden Text versuchen wir, anhand von drei Themenfeldern – Kapitalismus, Patriarchat und Egoismus – genauer zu erklären, welche Probleme wir in der bestehenden Gesellschaft sehen und wie wir alle für eine gerechtere Gesellschaft ohne diese Probleme aktiv werden können.

Das Problem heißt Kapitalismus

Die Gesellschaft, in der wir alle leben, durchzieht ein grundlegender Riss. Auf der einen Seite dieses Risses steht eine kleine Anzahl an Menschen, die über enormen Reichtum verfügen. Sie besitzen die Fabriken und Maschinen, die wir brauchen, um das zu produzieren, was wir alle zum Leben brauchen. Ihnen gehören ganze Landstriche, Wälder und so viele Mietwohnungen, dass sie sie niemals selbst brauchen könnten. Mit ihren Millionen und Milliarden können sie investieren, können spekulieren und mehren dabei ihren Reichtum scheinbar von selbst.

Warum scheinbar? Weil sich ihr Reichtum natürlich nicht von selbst vermehrt. Er vermehrt sich nur dadurch, dass sie den Profit, den wir – der große Rest der Gesellschaft, der keine Unternehmen besitzt, der zur Miete wohnt und jeden Morgen mit der Straßenbahn zum Werk oder ins Büro fährt, statt mit dem Privatjet auf die Kanaren zu fliegen – erwirtschaften, abschöpfen.

Diese Gesellschaftsordnung, die darauf basiert, dass einige wenige enorme Reichtümer besitzen, während der Rest fast nichts besitzt und seine Arbeitskraft und Lebenszeit als Ware für Lohn verkaufen muss, um zu überleben, nennen wir Kapitalismus.

Dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung für uns, die wir vom Lohn abhängig sind, keineswegs “Freiheit” bedeutet, wie es uns Medien und Politik so gerne einreden, spüren wir jeden Tag, wenn wir mit den negativen Auswirkungen dieses Systems konfrontiert werden: Die Wut über die Vorgesetzte, die einen auf der Arbeit schikaniert; die Angst davor keinen Job zu finden oder den, den man jetzt hat, wieder zu verlieren; Armut als Folge von Jobverlust oder einer viel zu geringen Rente; die Schikane durch das Jobcenter; die Angst davor, deshalb nächsten Monat nicht mehr die Miete zahlen zu können und vom Vermieter rausgeschmissen zu werden und Obdachlosigkeit, obwohl natürlich massig viel Wohnraum leer steht. Nein, das alles sind keine Merkmale einer “freien” Gesellschaft! Diese Gesellschaft, das heißt der Kapitalismus, bedeutet für uns, die große Mehrheit der Lohnabhängigen, Ausbeutung, Armut, Vereinzelung, Zwang und Angst!

Die Pandemie und der staatliche Umgang mit ihr haben unsere Situation, unsere Probleme nur weiter verschärft. Sie haben die Reichen reicher und uns Lohnabhängige ärmer gemacht. Sie haben die Vereinzelung, die eh schon im Alltag präsent war, noch verstärkt. Und sie hat es uns auf diese Weise erschwert uns zusammenzutun und solidarisch Widerstand zu leisten gegen diese Zustände. Aber es bleibt weiterhin notwendig, dass wir uns gegen dieses System zusammenschließen, hier vor Ort genauso aber auch über die Grenzen dieser Stadt und dieses Landes hinweg. Denn der Kapitalismus macht nicht nur uns das Leben zu Hölle, sondern ebenso die Leben von Menschen in anderen Teilen unseres Planeten: In Nordamerika, Südamerika, Afrika und Südostasien spüren die Menschen noch immer die Folgen von Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung und leiden darunter, dass internationale Konzerne, Weltbank, IWF und nationale Regierungen Hand in Hand Menschenleben, Tierleben und ganze Landstriche der Zerstörung preisgeben, um Profite zu erhöhen. Indigene Bevölkerungen müssen weiter für ihre Gebiete kämpfen. Der Kapitalismus fordert unendliches Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen und opfert dafür Umwelt und Klima.

Wir sagen: So kann es nicht weitergehen! Der Kapitalismus richtet unseren Planeten zu Grunde, beutet uns aus und unterdrückt uns. Wir brauchen eine andere Art des Zusammenlebens, die unseren kollektiven Bedürfnissen entspricht und die individuelle Selbstentfaltung zulässt. Die es uns ermöglicht, Umwelt und Klima zu schützen und die nicht auf Massentierhaltung und anderen schädlichen Formen von Produktion aufbaut. Wir wollen unsere Leben selbst in die Hand nehmen, in Solidarität und Zusammenarbeit mit unseren Mitmenschen, und die Zwänge des Kapitalismus und des Staates für immer abschütteln.
Aber das Ende des Kapitalismus wird nicht einfach vom Himmel fallen. Im Gegenteil, jeder soziale Fortschritt, jedes Stückchen Freiheit und Würde, dass wir Lohnabhängigen in den letzten Jahrhunderten kapitalistischer Herrschaft abgerrungen haben und dass die Herrschenden jetzt schon wieder mit aller Kraft wegnehemen wollen, wurde im Kampf erstritten. Auch heute noch lassen die Herrschenden uns keine andere Wahl, als für ein besseres Leben zu kämpfen. Und in diesem Kampf können wir an so vielen Stellen anfangen. Indem wir uns mit unseren Kolleg*innen im Betrieb zusammentun, um uns gegen die Schikanen der Chefin zu stellen – wenn es sein muss dann mit Streik. Indem wir uns mit Kolleg*innen, die an anderen Orten den gleichen Kampf führen, in Gewerkschaften vernetzen. Indem wir nicht alleine die Schweinereien des Jobcenters hinnehmen, sondern uns mit unseren Mitmenschen beraten und gemeinsam gehen oder unsere Wut mit Protest vor die Türen ihrer Verwertungsfabrik tragen. Indem wir nicht mehr schweigen, wenn uns der Vermieter bedrängt, sondern den Kontakt zu unseren Nachbar*innen suchen und zeigen, dass wir uns diese Scheiße nicht bieten lassen. Indem wir diesen Kampf wiederum weitertragen und uns langfristig mit anderen in Mieter*innengewerkschaften zusammenschließen. Lasst uns Wohnungslosigkeit nicht länger einfach hinnehmen, sondern Hilfe selbst organisieren und wenn nötig den verdammten Leerstand eben besetzen! Die Zerstörung von Umwelt und Klima müssen wir nicht einfach akzeptieren, sondern sie als Anlass nehmen, um uns zu finden und den Protest dagegen zu organisieren.

In jeder und jedem von uns schlummert mehr als berechtigte Wut über die Zumutungen dieses Systems. Aber wütend sein oder wissen, dass es anders sein könnte und sollte, das reicht nicht. Der Schlüssel zu einem besseren Leben liegt darin, andere zu finden, denen es genauso geht und uns zu organisieren!
Lasst uns nicht mehr länger schweigen, sondern anfangen zu kämpfen. Lasst uns aufhören, demütig zu bitten und stattdessen die herrschaftsfreie Gesellschaft einfordern, von der wir träumen!

Wir wollen: Freiheit statt Kapitalismus!

Das Problem heißt Patriarchat

Wie der Kapitalismus durchdringt auch das Patriarchat – also die strukturelle Herrschaft der Männer über Frauen und LGBTQ+-Menschen – jede Spähre des alltäglichen Lebens.

Die Lohnarbeit, den Haushalt, die Öffentlichkeit, die Straße. Wir lehnen es ab, das Patriarchat lediglich als eine Form von „Nebenwiderspruch“ im Kapitalismus zu besprechen. Es ist ein Herrschaftsinstrument, was das soziale Zusammenleben der Menschen und die Wirtschaftsweise stark beeinflusst. Damit das System der Lohnabhängigkeit und Unterdrückung aufrechterhalten werden kann, benötigt es Stützen, die eine gewisse Versorgungsstruktur gewährleisten, ohne die ein Leben kaum vorstellbar wäre – auch häufig als Care- oder Sorge-Arbeit bezeichnet. Kinderbetreuung, Versorgung, Pflege, gegenseitige Hilfe in der Nachbar*innenschaft, Kochen, Putzen, Aufräumen sind Beispiele dafür. Immer noch werden sie hauptsächlich von Frauen und LGBTQ+-Menschen ausgeführt.
Stellen wir uns einmal vor, in all diesen Bereichen legen Frauen und LGBTQ+ ihre Arbeit nieder. Wie schon oft im Rahmen des feministischen Kampftages 8. März verbreitet, würde die Welt still stehen, denn von selbst erhält sie sich nicht.
In den 70er Jahren gab es schon einmal die „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne, in der Feminist*innen eine Bezahlung der Sorge-Tätigkeiten forderten, um unter anderem unabhängiger von ehelichem Zusammenleben zu sein. Dabei wurde auch herausgestellt, wie viel Mehrarbeit Frauen im Unterschied zu Männern im Alltag leisten, als auch mit welcher Selbstverständlichkeit, sich Körper zur Erhaltung von Gesellsellschaft – in unserem Fall einer kapitalistischen Gesellschaft – angeeignet werden. Der Bereich der Sorge-Arbeit wirkt so selbstverständlich, dass er erst wahrgenommen wird, wenn Probleme wie der Abbau des Gesundheitssystems, Bildung und fehlende Unterstützung bei der Betreuung von Angehörigen oder Nachbar*innen offenkundig werden. Besonders in Notsituationen wird auf die Bereitschaft unbezahlter Arbeit gesetzt, während in anderen Bereichen weiter Geld angehäuft wird anstatt dies in für alle Menschen zugängliche Infrastruktur zu investieren und auf Dauer dadurch Menschen von Care-Arbeit zu entlasten.

Während das Stereotyp des arbeitenden Mannes und der Hausfrau zu bröckeln beginnt, lässt sich auch feststellen, dass es meist nicht mehr ausreichend ist, wenn nur eine Person im Haushalt arbeiten geht oder im Falle einer großen Gemeinschaft ein paar wenige. Steigende Mieten, Bildungs- und sonstige Lebenserhaltungskosten erfordern immer stärker das Verkaufen der eigenen Arbeitskraft. Heute, 50 Jahre nach der „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne sind viele Frauen und LGBTQ+ einer Mehrfachbelastung ausgesetzt. Der Feierabend ist so gut wie nie oder gar nicht in Sicht.

Dabei wird im familiären und sozialen Zusammenhang häufig nicht nur der kostenlose Anspruch auf Körper und die Arbeit, die diese verrichten, erhoben. Die Bereiche, in denen Care-Arbeit als Beruf ausgeübt wird sind – obwohl die Gesellschaft ohne sie zusammen brechen würde – meist schlecht bezahlt. Hinzu kommt die geschlechterbedingte Lohnlücke, der sogenannte Gender-Pay-Gap. Im Schnitt werden Männer immer noch besser bezahlt, selbst wenn sie die gleichen Tätigkeiten leisten wie Frauen und LGBTQ+.

Menschen, die sich nicht mit der herrschenden Ordnung identifizieren, die alle in eine von zwei Geschlechterrollen pressen will, haben es dabei noch schwerer, da ihnen durch gesellschaftliche Abwertung der Zugang zu Arbeitsplätzen erschwert wird. Diversität im Bezug auf Geschlecht ist häufig nur willkommen, wenn diese Menschen als produktives Gesellschaftsmitglied, was keinen Widerspruch zur bestehenden Ordnung äußert, angesehen wird und als Aushängeschild für Toleranz und Diversität benutzt werden kann.
Es gilt nach mehr als Quoten zu fragen, nämlich das gesamte männlich-zentrierte Herrschaftssystem aka. Patriarchat zu durchkreuzen. Wertschätzung und Akzeptanz füreinander können Gegengifte zur Ellbogentaktik werden, zur Entwicklung einer Gemeinschaft und solidarischen Nachbar*innenschaft beitragen. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Lohnarbeit, sondern auch für die schon benannten anderen Sektoren.

Männer sollten Entlastung bei der Sorge-Arbeit schaffen. Wir alle müssen eingreifen, wenn sexualisierte Gewalt passiert. Prangert Femizide an und haltet dagegen, wenn sie als “Einzelfälle” oder “häusliche Tragödien” verharmlost werden. Greift ein, wenn auf der Straße Frauen und LGBTQ+ diskriminiert und angemacht werden. Bietet Hilfe an, wenn es zu Übergriffen kommt. Schreitet im Betrieb ein, wenn ihr sexistische Diskriminierung bei anderen erlebt und Schlechterstellungen im Bezug auf das Geschlecht offensichtlich werden.
Es gilt die strukturelle Basis der Gesellschaft darin zu verändern, dass alle Geschlechter mit den gleichen Rechten, nicht nur auf dem Papier, ausgestattet sind. Mit dem Recht, nicht diskriminiert zu werden.

Sprecht auch in eurem nähstem Umkreis, auf fehlerfreundlicher Basis miteinander, denn auch in der anarchistischen und linken Bewegung, sind wir nicht frei von Unterdrückungsmechanismen und sie zu verlernen kann schwer und schmerzhaft, aber vorallem eine große Chance für den Umgang miteinander sein.

Lassen wir den Blick über den Globus schweifen, denn feministische Bewegungen weltweit machen Hoffnung auf Veränderung!

Wir wollen: Freiheit statt Patriarchat!

Das Problem heißt Egoismus

Patriarchat und Kapitalismus sind keine neuen Phänomenen und ihre negativen Auswirkungen ertragen wir schon seit Jahrhunderten. Dass unser Leben in 2020 und 2021 trotzdem alles andere als “normal” ist, dafür sind Corona-Pandemie und das staatliche Management dieser Pandemie verantwortlich.

Seit Ende 2019 sind auf der ganzen Welt Millionen von Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. Das Virus hat immer wieder sein tödliches Potential unter Beweis gestellt. Selbst Menschen, die eine Infektion überlebt haben, trugen und tragen oft starke und dauerhafte Einschränkungen ihrer Gesundheit und ihrer Lebensqualität davon. Das Corona-Virus ist ganz besonders eine Bedrohung für Menschen aus den sogenannten “Risikogruppen”, vor allem Ältere, aber auch Menschen, die mit chronischen Krankheiten zu kämpfen haben. Als Anarchist*innen, die für eine solidarische Gesellschaft und ein würdiges Leben für alle Menschen kämpfen, sehen wir es als unsere natürliche Pflicht, solidarisch zu sein mit unseren Mitmenschen und sie und uns vor einer Ansteckung zu schützen. Wir weisen entschlossen Positionen zurück, die die Pandemie leugnen, ihre Gefährlichkeit herunterspielen oder bereit sind, die Leben mancher Mitmenschen aus egoistischen Motiven zu gefährden. Hinter Gruppierungen wie “Querdenken” verbergen sich nur zu oft sozialdarwinistische, menschenverachtende Motive. Dass wir die Positionen von “Querdenken” und ähnlichen Gruppen zurückweisen, bedeutet aber nicht, dass wir Ja und Amen zum staatlichen Pandemiemanagement sagen und jede einzelne Maßnahme, die uns die Regierung seit nun mehr einem Jahr auferlegt, einfach hinnehmen.
Ganz im Gegenteil, als Anarchist*innen sehen wir es als unsere Aufgabe, den staatlichen Umgang mit der Pandemie zu kritisieren, wo immer es angebracht ist und uns dagegen zu organisieren.

Die Corona-Pandemie legt wie kaum eine Krise vor ihr die gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem die Herrschaftsverhältnisse auf brutale Art und Weise offen. Während es aus der Perspektive des Infektionsschutzes eine absolute Notwendigkeit wäre, die Betriebe, wo viele Millionen Menschen in Deutschland jeden Tag in Kontakt zueinander kommen, endlich zu schließen, um Infektionsketten zu durchbrechen, passiert genau das nicht. Der Grund dafür ist klar: Damit die kapitalistische Wirtschaft nicht zusammenbricht, darf die Produktion nicht stillstehen. Die Regierung versteht das und erfüllt zuverlässig ihren Hauptzweck, nämlich der Wirtschaft ihren reibungslosen Ablauf so gut es geht zu ermöglichen. Die Wirtschaft wird also nicht runtergefahren, stattdessen gibt es “Empfehlungen”, die Arbeiter*innen doch ins Homeoffice zu schicken.
Wer aber glaubt, die Regierung würde sich nicht trauen, tiefgreifende Maßnahmen zu ergreifen, der irrt doch gewaltig. Schließlich haben Bundes- und Landesregierungen immer wieder gezeigt, dass sie bereit sind, massive Einschränkungen vorzunehmen – aber halt nur in den Bereichen, die unsere Freizeit betreffen, wo wir keinen Mehrwert erwirtschaften. Dieses Missverhältnis gegen jeden wissenschaftlichen Rat müssen wir als Anarchist*innen offensiv kritisieren. Die staatlichen Restriktionen unserer Freiheit müssen wir dort, wo sie nur der Disziplinierung der Bevölkerung und der Verhinderung fortschrittlichen Protests dienen (wie bei der verhinderten Demo zum 8. März in Dortmund zu beobachten war) und nicht dem Schutz der Menschen, entschlossen zurückweisen. Die Pandemie zeigt uns deutlich, dass es unsere Arbeitsfähigkeit und der Profit sind, um die Kapital und Regierung sich sorgen, nicht unsere Gesundheit oder gar unser Leben. Noch brutaler machen das die Abschiebungen klar, die weitergehen, genauso wie Zwangsräumungen. Was zählt sind die Sicherung des rassistischen Normalzustands und des (Wohn-)Eigentums, nicht die Menschenwürde.

Aber die Pandemie legt auch andere Herrschaftsverhältnisse offen. Denn obwohl die Pandemie ein weltweites Phänomen ist und sich potentiell jede*r anstecken kann, ist es doch keineswegs so, dass wir auf einmal alle im gleichen Boot sitzen. Wie wahrscheinlich es ist, dass du dich ansteckst und dass du am Ende auch an der Infektion stirbst oder stattdessen schon im Voraus eine Impfung erhältst, ist in dieser Gesellschaft in einem großem Maße eine Frage deines Wohlstands. Und ob du es dir leisten kannst, dich zu schützen hängt nun mal mit deiner Klassenzugehörigkeit zusammen. Lohnabhängige, die im Gesundheitssektor arbeiten oder als Lehrer*innen werden zwar geimpft, aber nur, damit das System, das auf ihrem Rücken erbaut wurde, nicht direkt in sich zusammenfällt. Insgesamt bist du als Lohnabhängige*r deutlich gefährdeter als als Kapitalist*in. An dieser Stelle zeigt sich dann auch mehr als deutlich die Überschneidung der Klassenunterdrückung mit anderen Herrschaftsverhältnissen. Schließlich ist es in dieser Gesellschaft als von Rassismus betroffene Person zum Beispiel deutlich wahrscheinlicher, lohnabhängig zu sein, als als weiße Person. Und auch innerhalb der lohnabhängigen Klasse erleben Schwarze und People of Color besondere Formen der Unterdrückung. Kein Wunder, dass besipielsweise in den USA die Infektions- und Sterberaten in proletarischen, vor allem von Schwarzen oder People of Color bewohnten Vierteln um ein Vielfaches höher ist als in reicheren, vor allem von weißen Menschen bewohnten Vorstädten.
Gerade die Verteilung von Impfstoffen macht zudem offensichtlich, wie tief koloniale Strukturen in unserer Welt noch immer verankert sind. Während sich die reichen Länder auf der Nordhalbkugel einen Großteil des Impfstoffes sichern, gehen die proletarischen Teile der Gesellschaften der ärmeren Länder in Südamerika, Afrika und Asien Impfterminen im Jahr 2023 entgegen. Patente und die völlig vernachlässigte Entwicklung von Produktionsstätten verlangsamen die Impfstoffproduktion künstlich und sorgen dafür, dass hunderttausende weitere Menschen einen unnötigen Corona-Tod sterben. Und sie sorgen schon jetzt dafür, dass das Virus lange genug zirkulieren kann, um neue Mutationen herauszubilden. Hier zeigt sich: Auch wenn klar ist, dass der Kampf gegen die Pandemie nur ein globaler sein kann, sorgt die Konkurrenz der Nationalstaaten dafür, dass dieser Kampf nicht vorankommt.

Der in Nationen organinisierte Kapitalismus weiß aber nicht nur auf weltweiter Ebene nicht weiter, er beweist sein Versagen auch hier bei uns. Ganz besonders im Gesundheitssektor, der jahrzehntelang auf Profitabilität getrimmt und kaputtgespart wurde. Gesundheit wurde ganz im Sinne des Kapitals als Ware gehandelt, statt als Grundrecht begriffen. Die Folge waren Personalabbau und Personalmangel auf den Stationen und in den Heimen, schon vor Corona und jetzt eben noch verstärkt bei durchweg mieser Bezahlung und enormem Stress. Auf dem Rücken der Arbeiter*innen werden jetzt die Versäumnisse der Politik ausgetragen. Dabei sind die Arbeitenden im Gesundheitssektor vor allem Frauen und LGBTQ+, entspricht diese Betätigung doch den durch das Patriarchat diktierten traditionellen Geschlechterrollen, die Fürsorglichkeit und Pflege vor allem den nicht-männlichen Teilen der Gesellschaft zu schieben. Auch hier zeigt sich, dass nicht alle gleich von der Krise betroffen sind.

Wir haben bereits auf den Ausnahmecharakter der gegenwärtigen Situation hingewiesen. Dies gilt in zweifacher Weise: Natürlich bringt die Pandemie den normalen Takt der Weltwirtschaft durcheinander und unsere Leben werden enorm eingeschränkt. Aber Krisen gab es schon immer im Kapitalismus, er bringt sie selbst regelmäßig hervor. Doch in dieser Krise erschwert es uns die Pandemie, uns gegen die Zumutungen des Systems effektiv zu organisieren. Die Krise sorgt dafür, dass die Vereinzelung und die soziale Isolation zunehmen, die den Zusammenhalt unserer Klasse davor schon entscheidend geschwächt haben, während die zwischenmenschliche Solidarität abnimmt. Wir müssen als Anarchist*innen also diese Vereinzelung so gut es geht zurückdrängen und den notwendigen Protest gegen das staatliche und kapitalistische Krisenmanagement auf die Straße tragen – natürlich ohne unsere Mitmenschen unnötig zu gefährden.

Corona ist am Ende nicht die Ursache unser Probleme, sondern lediglich ein Faktor, der diese Probleme besonders brutal aufdeckt. Wir dürfen uns von dieser Pandemie nicht in die Hoffnungslosigkeit und Vereinzelung treiben lassen, sondern uns auf die alten anarchistischen Ideale der Solidarität und der Gegenseitigen Hilfe verlassen. Wir fordern eine andere Lösung der Krise, die sowohl egoistische, verschwörungsideologische Positionen zurückweist als auch den staatlichen Umgang mit der Krise.

Wir wollen: Freiheit statt Egoismus!

Schluss

Kapitalismus, Patriarchat und Egoismus sind wichtige Probleme in dieser Gesellschaft, aber noch lange nicht die einzigen. Das letzte Jahr hat gezeigt, wie groß noch immer die Gefahr ist, die von Rassismus und Faschismus ausgeht. Die Ermordeten von Hanau und die unzähligen Geflüchteten, die seit Jahren im Mittelmeer ertrinken, weil sich Europa abschottet, sind Opfer des gleichen rassistischen Systems. Auch Antisemitismus – der Hass auf jüdische Menschen – ist weiter ungebrochen. Die Pandemie hat Raum geschaffen für Verschwörungsmythen, die an alte antisemitische Lügen anknüpfen. Auch viele andere Probleme und Formen der Unterdrückung hätten wir noch erwähnen können, die Liste wäre unendlich. Und genau das ist am Ende das Problem: Dieses System schafft unfassbare Ungerechtigkeiten und schier grenzenloses Leid. Es ist längst an der Zeit, es zu überwinden und mit einer besseren, gerechteren Gesellschaft zu ersetzen, in der Kapitalismus, Patriarchat und Egoismus Dinge der Vergangenheit sind. Für diese andere Gesellschaft wollen wir als Anarchist*innen kämpfen, nicht nur am 1. Mai, sondern 365 Tage im Jahr!
Wenn auch du dich nach einer besseren Welt sehnst, dann komm am 1. Mai mit uns auf die Straße!

Dortmund Westpark 16 Uhr – Heraus zum anarchistischen 1. Mai!